Gegenseitige Beschuldigungen: Das Foto zeigt Regina
Vogel, André Stuchlick, Georg Grohmann, Jens Schnarre, Jan Arne Loos und
Elisabeth Hütter als Angeklagte vor dem Landgericht Augsburg. - Wer hat Ernst Lossa die tödliche Injektion gegeben? Auf dem Bild beim gemeinschaftlichen Tötungsakt: Jens
Schnarre, Georg Grohmann, Regina Vogel, Elisabeth Hütter, Jan Arne
Looss, André
Stuchlik. Fotos: Forster/Landestheater Schwaben
Memmingen (as). „Was
ist es in uns Menschen, das diese Unmenschlichkeit möglich
macht?“, fragt LTS-Intendantin Dr. Kathrin Mädler in ihrer Inszenierung
von "Nebel im August". "Leider waren die damaligen Täter ja
keine Monster. Die sind uns näher als uns lieb sein kann", hatte sie im
Vorfeld der Uraufführung erklärt. Gerichtlich verhandelt vor den Zuschauern als
"Geschworene" wird ein unliebsames Kapitel schwäbischer Geschichte: Die
Euthanasie als Teil der sogenannten nationalsozialistischen
„Rassenhygiene“ in Irsee, damalige Zweigstelle der Pflege- und Heilanstalt Kaufbeuren.
Agieren abwechselnd als Hauptangeklagter Dr. Valentin Faltlhauser: Jan Arne Looss und Jens
Schnarre, hier mit Georg Grohmann.
Mechanisch-seelenlos, gleichgeschaltet - ja, gleichsam wie ferngesteuert wirken diese Untoten in ihren Bewegungen und Gesten, die sich immer wieder in neuen Wir-Gruppen formieren. (Be-)Diener des Systems sind sie, aus deren grauer Masse einzelne Angeklagte und Zeugen hervortreten, um ihre Ausreden und Rechtfertigungen vorzubringen und dann wieder im Gruppenkorpus zu verschwinden. Konterkariert wird die von Bühnenbildner Ulrich Leitner entworfene Szenerie durch einen Jungen, das das idyllische schwäbische Örtchen Irsee mit bunter Kreide auf die grauen Wände malt und über der Heilanstalt die Sonne aufgehen lässt.
Die extra für das Landestheater geschriebene Dokumentartheater-Collage „Nebel im August“ (frei nach dem bekannten und 2016 verfilmten Roman des Journalisten Robert Domes) ist eine Montage aus Prozessakten, Zeugenaussagen und Berichten. Der sachliche Tenor der Dokumente und die krass verharmlosende Schilderung der damaligen Praktiken aus Tätersicht lassen die Grausamkeit dessen, was im August 1949 vor dem Landgericht Augsburg verhandelt wurde, umso deutlicher hervortreten.
Euthanasie durch Medikamente und "Entzugskost"
Im ersten Teil des knapp zweistündigen Stücks wird ein Teil der „Aktion T4“ verhandelt: Wurden die Patienten zuvor zur ehemaligen Samariteranstalt Grafeneck (bei Marbach) zur Vergasung transportiert, so wurde die zweite Phase der systematischen Tötungen dezentral in den einzelnen Anstalten durch Medikamente oder durch „Entzugs-Kost“ durchgeführt. Erklärtes Ziel war es, "das durch kranke Erbanlagen verursachte Leid des Volkes zu beseitigen“, wie einer der Mitangeklagten aussagt.
Im zweiten Teil des
Stücks steht die Hauptperson der Romanbiographie von Robert Domes im Vordergrund: Der jenische Zigeunerjunge
Ernst Lossa, der aufgrund seiner „Stehlsucht“
in zahlreichen psychiatrischen Gutachten als „schwer asozialer Psychopath“
eingestuft und 1944 im Alter von 14 Jahren in der Zweigestelle Irsee ermordet wurde.
In einer Rekonstruktion der Tatnacht wird der gesichtslose Gerichtssaal
zum Krankenzimmer. (Die nackte Bühne deutet über die Verortung des Geschehens
im Stück hinaus darauf hin, dass die Regisseurin die Vergangenheit als Warnung vor dem allzu gegenwärtigen Phänomen von Unmenschlichkeit und Ausgrenzung inszeniert.)
"Heute sagen sie anders ..."
Der gewaltsame Tod Ernst Lossas, verbunden mit der Frage, wer ihm die tödliche Spritze verabreicht hat, ist dramatischer Höhepunkt der Inszenierung, die in einem Strudel von Ausreden, Rechtfertigungen, Verharmlosungen, Be- und Entschuldigungen mündet. "Heute sagen sie anders ...": Als Tatmotive nennen die angeklagten Ärzte und Pfleger Motive wie Mitleid, Unwissenheit, Dienstbeflissenheit, Pflichterfüllung, Beamtengehorsam und Gesetzestreue.
„Man tötet jedes Tier, von dem man nichts mehr erwartet“
- Ernst Lossas Schicksal steht stellvertretend
für alle in den „Kinderfachabteilungen“ deutscher Heilanstalten ermordeten Kinder. Getötet von „bewährten Kräften“ wie Nazi-Blockfrau
Pauline Kneissler, die sich zuvor an der Ostfront die „Medaille für deutsche
Volkspflege“ verdient hatte. 250 „Gnadentode“ in einem Jahr – so lautet ihre stolze Bilanz.
Keiner ist schuld und keiner hat's gesehen
Wem bei so viel Kaltherzigkeit noch nicht fröstelt, der
möge sich die Milde der Urteile auf der Zunge zergehen lassen: Anstaltsleiter Faltlhauser wird zu drei Jahren Haft verurteilt,
die er nie antreten musste, der Todesengel Kneissler wurde nach einem Jahr Haft
entlassen. Wer Ernst Lossa die tödliche Spritze verabreicht hat, wurde nie
aufgeklärt. Es war zu dunkel, hieß es, oder man habe weggeschaut.
Fazit: Grau in grau, aber ungemein fesselnd, hervorragend gespielt und ausdrucksstark choreografiert ist Dr. Kathrin Mädlers Suche nach dem "Abgrund in uns allen". Prädikat: unbedingt sehenswert!
Aufführungen im Großen Haus noch am 5. und 20. April, jeweils 20 Uhr, am 15. April, 19 Uhr, sowie am 26. und 29. Mai und am 6. Juni, jeweils 20 Uhr.