Brautraub: Peer Gynt (Sandro Sutalo) vergnügt sich mit der reichen Bauerstochter Ingrid (Elisabeth Hütter) vor deren Hochzeit. Fotos: Forster
Memmingen (as). „Peer, du lügst!“, mit diesem Ausruf der psychisch labilen Mutter wird der Zuschauer im fast ausverkauften Stadttheater eingestimmt auf die mit Spannung erwartete Premiere von Henrik Ibsens dramatischem Gedicht "Peer Gynt", dem Regiedebut der neuen Intendantin. Dr. Kathrin Mädler interpretiert den narzisstischen Phantasten als Prototyp des getriebenen, egozentrierten und empathielosen Selbstverwirklichers von heute.
Schwarz
und weiß sind die Farben dieser Inszenierung, die Grauzone dazwischen, in der
das normale Leben sich gewöhnlich abspielt, meidet Peer Gynt. König, ja, Kaiser
will er werden. Peer träumt sich aus der Enge der norwegischen Fjorde, seines
ärmlichen Zuhauses und der Mentalität seiner Landsleute (die ihn verachten) hinaus
in eine Welt der Abenteuer, in der er der Held ist. Mutwillig raubt er des Nachbarn Braut und verlässt sie wieder, im Land
seiner Lüste begegnet er wundersamen
Trollen, verfällt der Tochter ihres Königs, kämpft mit dem großen Krummen, wird
Sklavenhändler in Afrika und landet schließlich im Irrenhaus von Kairo, wo er zum
„Kaiser der Selbstsucht“ gekrönt wird. Denn mittlerweile ist der harmlose
Phantast, der sich mit Lug und Trug durchs Leben wurschtelt, zum skrupellosen Machtmenschen degeneriert.
Einige
der Szenerien der ziemlich verästelten Originalvorlage wurden gestrichen,
was aber auf den unvorbereitet mit dem Stück konfrontierten Zuschauer etwas verwirrend wirkt. Davon ausgehend, dass es sich um „Gedanken- und Traumräume“ des
realitätsfernen Peer Gynts handelt, entbehrt das Stück nicht viel, wenn die ohnehin schwer
auf die Bühne zu bringenden Schauplätze wegfallen. Und wenn man bedenkt, dass
das Muttersöhnchen Peer auf den Stationen seiner phantastischen Weltreise auch keine Entwicklung
im Sinne einer charakterlichen Reifung durchmacht, so ist das dramatische "Abarbeiten" der Stationen obsolet. Dennoch: Ohne Vorwissen sind sowohl die zeitlichen Sprünge als auch die Bedeutung mancher
Figuren schwer nachzuvollziehen.
Gier nach Selbstverwirklichung
Unheilige Dreifaltigkeit: Peer Gynt wird von drei Darstellern (Sandro Sutter, Jans Schnarre und Aurel Bereuter) dargestellt.
So
wird Peer Gynt von drei Schauspielern dargestellt die - anders als in
älteren
Inszenierungen wie der von Peter Stein, der 1971 gleich mit einem halben
Dutzend
Peer-Schauspieler aufwartete - nicht die
Lebensphasen des „Helden“ abbilden, sondern seine ständig miteinander
kommunizierenden verschiedenen
Persönlichkeitsanteile. Mädlers Deutung des für Ibsen untypischen
analytisch-symbolischen
Gesellschaftsdramas, das heute als Vorläufer des modernen Theaters
betrachtet
wird, ist eine psychoanalytische. Sie
betont die starke, ungelöste ödipale Mutterbindung des negativen Helden
als Kern seiner Münchhauseniaden und seiner Hochstapeleien.
So spielt Sandro Sutalo als "Haupt-Ich" den Peer wie ein naives, zu groß
geratenes Kind. Ein zweiter
Darsteller (im Kokainrausch: Jens Schnarre) verkörpert ihn als
kapitalistischen Ausbeuter. Am
Ende der Welt- und Lebensreise bleibt Peers drittes Ich (Aurel
Bereuter) ängstlich und verwirrt zurück. „Sich selbst genug“ wollte er
sein, und ist doch
niemals „er selbst“ gewesen. Das hält der Knopfgießer (Anke Fonferek)
ihm nun vor, der ihn aus dem Leben nehmen und "umgießen" will, weil Peer
sein Leben, das ihm zu gering erschien, nicht gelebt, sondern vor
lauter Gier nach Selbstverwirklichung verpasst hat.
Mystische Welt auf karger Bühne
Das Ewigweibliche zieht auch ihn hinan: Am Ende seines verpassten Lebens wird Peer durch Solvejgs Liebe (Miriam Haltmeier) errettet. Bei ihr kommt er endlich zur Ruhe.
Bäuerlich-norwegischer
Bergidylle entsagt das recht karge Bühnenbild von Gast-Ausstatterin Mareike
Delaquis-Porschka. Hauptstation ist
ein ausrangierter (abgestürzter?) Sessellift. Eine Lichtergirlande
markiert den Raum, indem die
Hochzeitsvorbereitungen der reichen Bauerstochter Ingrid (Elisabeth
Hütter), von Peer geraubt,
stattfinden. Mit ihm gemeinsam fantasiert sie sich heraus aus der realen
Welt. Eine
groteske Szene zeigt, wie sich die schließlich von Peer Verschmähte in
einem weißen Tutu aus grauen Müllsäcken herausschält, die die Bühnen im
hinteren Teil bedecken (Sinnbild für
Peers "Selenmüll"?).
Bei den Vorbereitungen lernt Peer auch
seine große Liebe Solvejg (Miriam Haltmeier) kennen, doch
auch sie kann den rastlos vor sich selbst Fliehenden nicht aufhalten.
Die mystische Welt der Trolle
sticht vor allem durch die weiße Kostümierung aus dem Dunkel der Bühne
heraus. Auch das Irrenhaus, in dem Peer seine
wenig ehrenhafte Krönung erlebt, ist eine der groteskeren Station der
Inszenierung. Im zweiten Teil markiert ein (Schiffs-)Mast seine
gefährliche Heimreise.
Reichhaltige atmosphärische Gestaltung
Die
Kargheit der insgesamt düsteren Bühnengestaltung wird durch reichhaltige atmosphärische
Gestaltung (Techno-Musik, komplexe Lichtregie, Regengeräusche und Kunst-Schnee) wett
gemacht: In der verschneiten Landschaft der Heimat findet das berühmte finale
Zwiebelschälen statt: „Bis zum innersten Innern, - da schau mir einer! – bloß Häute,
- nur immer kleiner und kleiner“. Was fehlt, ist der feste Kern. Das geschälte Gemüse wird
zum Gleichnis für Peers Wesen.
Besonders
zu loben ist das überaus engagierte (Zusammen-)Spiel aller Darsteller. Besonderen Applaus erhielt Anke
Fonferek, sie gab den Knopfgießer mit mephistophelischem Witz und Eleganz.