Sandro Šutalo und Tobias
Loth (v.li.) verkörpern Gregor Samsa und seine Schwester Grete. Das Vorschaubild zeigt Tobias Loth (rechts) und - roboterhaft - Jan Arne Looss als Gregors Vater bzw. väterliches Über-Ich. Fotos: Karl Forster/Landestheater Schwaben
Memmingen (as). Franz Kafkas 1915 erschienene Novelle „Die Verwandlung“ ist ein Klassiker der modernen Literatur und ein beliebtes Sujet des postmodernen Theaters. Das bizarre Geschehen um den Handlungsreisenden Gregor Samsa, der sich über Nacht in einen Käfer verwandelt, ist hinlänglich bekannt und bietet reichlich Interpretationsspielraum. Diesen nutzt Pia Richter (dem Memminger Theaterpublikum bekannt durch Ihre „schräge“ Inszenierung von „Effi Briest“) für eine weitere provozierende und auch schockierende Klassiker-Inszenierung, die vom Premierenpublikum mit großem Beifall aufgenommen wird. Tobias Loth, Jan Arne Looss, und Sandro Sutalo verkörpern bravourös den kafkaesken Alptraum um das Schicksal eines Angestellten, der in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nicht mehr funktioniert.
„Handle with care“: Eine große Kiste (die später zur Wand ausgefaltet wird) steht auf der klinisch-weißen Studiobühne. Ein Bühnenhelfer befreit die Akteure aus dem hölzernen Kokon, in den sie eingepfercht sind wie zu einem Viehtransport: Drei fünftagebärtige Männer im Schiesser-Look, halb in Plastik verpackt, mit blonden Zottelperücken auf dem Kopf drehen dem Publikum erst mal den Allerwehrtesten z:. „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“ ist darauf zu lesen.
Mit der Beschriftung der grotesken Outfits ist die psychoanalytische als eine der Interpretationsebenen
des Stücks angedeutet, sicherlich auch in Anspielung auf den Vater-Konflikt, der Kafkas
frühe Erzählungen durchzieht wie ein roter Faden.
Zugleich nehmen die Protagonisten in ihrem kontroversen Gespräch über das in drei "Kapitel" aufgeteilte Stück,
das der ersten Szene vorangeht, ein
wesentliches Gestaltungselement der Inszenierung vorweg: Den Wechsel zwischen epischem,
also erzählerisch-beschreibendem, und einfühlendem Identifikationstheater.
Mehrere Spiel- und Erzählebenen
Verwahrlosung des Mensch(lich)en
Hier wird die zweite Interpretationsangebot der Inszenierung
sichtbar: Das Entsetzen, das Gregor in seiner ausbeuterischen Familie auslöst, ist
vor allem bedingt durch seine Andersartigkeit. Als „Ratte“ (ein Schimpfwort für
die Juden im Dritten Reich) und „Zecke“ grenzen Eltern und Schwester den nutzlosen „Mistkäfer“ aus, verfolgen, erniedrigen und vernichten ihn schließlich. Je
schwächer der bisherige Alleinverdiener der Familie wird, desto stärker und
mächtiger fühlt sich seine Familie. Im dritten Kapitel endet die Verwahrlosung des Mensch(lich)en in einer veritablen Schlammschlacht.
„Eine Panne im System“
Gesellschaftspolitisch betrachtet ist der ineffiziente Gregor
„eine Panne im System“, wie es im Abgesang auf den Kapitalismus heißt, welcher
dem zweiten Kapitel vorangeht. Schlimmer noch: Er hat als Käfer Zeit, nachzudenken - über Politik
zum Beispiel, und über seine Familie ...
„Was würde passieren, wenn er als Käfer zuhause
bliebe?“, fragen die Protagonisten und beschließen, diese Option "durchzuspielen".
Und lange bevor sich die Kiste am Ende
wieder schließt ist klar: Sie wird für Gregor zum Sarg.
Das Kafkaeske wird zum Grotesken
Der begeisterte Beifall des Premierenpublikums gilt einer
einfallsreichen und ungewöhnlichen schrill-schrägen, auch durchaus sinnlichen Inszenierung,
in der das Kafkaeske zum Grotesken wird. Und drei Schauspielern, die sich gemeinsam durch
Abgründe voller Blut und Schlamm wühlen und aus all dem am Ende strahlend hervorgehen.