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Einfühlsam und erschütternd: „Alles, was wir geben mussten“ im Stadttheater

veröffentlicht am 10.10.2016
Alles was wir geben mussten

Ruth (Regina Vogel), Tommy (Rudy Orlovius) und Kathy (Miriam Haltmeier) sind Klone, die für Organspenden "ausgeschlachtet" werden. Die Jugendlichen versuchen, dieses Schicksal zu ignorieren und malen sich eine Zukunft voller Chancen aus. Foto: Monika Forster 

Memmingen (sfü): Mit hochaktueller Reproduktions-Thematik und existentiellen Fragen setzt das Landestheater Schwaben seine Spielzeit fort. Mit der deutschsprachigen Erstaufführung des 2005 erschienenen Romans „Alles, was wir geben mussten“ von Kazuo Ishiguro stellt Regisseur Thomas Ladwig die Debatte um Reproduktionsmedizin, Ethik in der Wissenschaft und vor allem die Frage nach Sinn und Wert des Lebens eindringlich in den Mittelpunkt.

England, Mitte der 1990er Jahre. In Rückblenden erinnert sich Kathy (Miriam Haltmeier), eine junge Frau Ende Zwanzig an ihre Jugend im Internat und ihre zwei besten Freunde Ruth (Regina Vogel) und Tommy (Rudy Orlovius). Im Internat Hailsham wachsen die drei Jugendlichen scheinbar unbeschwert und behütet auf. Das strenge Regelwerk der Bildungseinrichtung unter der Leitung der kühlen und resoluten Miss Emily (Anke Fonferek), welche insbesondere die Gesundheit der Schüler penibelst überwacht, wird von den Heranwachsenden nicht hinterfragt. Hinter den Mauern Hailshams knüpfen sie Freundschaften, streiten und versöhnen sich, hegen Träume und erleben die erste Liebe.

Doch die drei Freunde und ihre Mitschüler verbindet ein Schicksal: Ihre Zukunft ist bereits vorbestimmt, denn die Schüler Hailshams sind Klone, die einzig zu dem Zwecke existieren, im jungen Erwachsenenalter nach und nach Ihre Organe zu spenden. Obwohl sich alle Internatsschüler dieser Tatsache bewusst zu sein scheinen, malen sie sich eine bunte Zukunft voller Chancen aus, träumen von Karrieren in Hollywood und wo und wie sie einmal leben werden.

Vor allem die Frage nach der eigenen Herkunft beschäftigt sie. Und auch ein weiterer Gedanke schleicht sich in die Köpfe der Internats-Bewohner: eine Möglichkeit zu finden, das Schicksal der finalen Organspende hinauszuzögern. Es geht das Gerücht umher, dass wahre Liebe zwischen zwei Spendern einen Aufschub gewähren könne...

Einfühlsam und intensiv

Thomas Ladwig hat in seiner Inszenierung eine einfühlsame und zugleich intensive Adaption Ishiguros Romans auf die Bühne gebracht. In einem dramaturgischen Crescendo baut Ladwig einen Spannungsbogen auf, der den Zuschauer durch die unbeschwerte Jugendzeit der Protagonisten in den ersten beiden Szenenbildern begleitet, bis er sie letztlich mit deren erschütternden Lebensrealität konfrontiert. Miriam Haltmeier überzeugt in ihrer Darstellung der sensiblen, introvertierten Kathy, die sich zwischen ihrer Selbstkontrolle und ihrem Drang nach emotionaler Nähe und Lebensfreude hin und hergerissen fühlt. Rudy Orlovius und Regina Vogel gelingt es eindrücklich, Tommy und Ruth als scheinbar oberflächliche Jugendliche darzustellen, deren Fröhlichkeit letztlich ein Schutz vor deren unausweichlichem Schicksal ist.

„Alles, was wir geben mussten“ ist ein vielschichtiges Drama, dass sowohl spirituelle, wie zwischenmenschliche als auch ethische Fragen aufwirft. Der Sinn des Lebens, die Frage nach der Existenz einer Seele oder die Grenzen und Möglichkeiten der Wissenschaft sind dabei nur einige der angesprochenen Themen.

Menschen als Genmaterial

Wir wähnen uns in Sicherheit, da der Schutz der Menschenwürde sowie das Recht auf physische und psychische Unversehrtheit rechtlich verbrieft sind. Doch was ist, wenn Individuen qua Definition nicht als Menschen, sondern als Genmaterial betrachtet werden? Fallen sie dann durch das Raster? Stellt dies den intrinsischen Wert des Lebens an sich in Frage? Kinder, die gezielt gezeugt werden, um als Spender für ein krankes Geschwisterkind herangezogen werden zu können oder die jüngste Nachricht eines Drei-Eltern-Babys sowie der weltweite Organhandel und die Organspendeskandale zeigen: Ishiguros Roman ist weniger utopisch, als wir vielleicht glauben möchten.

Das Bühnenbild von Ulrich Leitner ist sowohl funktional als auch effektiv. Durch Verschieben von Versatzstücken lässt sich der Bühnenraum in Klassenzimmer, Schulhof und Krankenhausgänge umwandeln. Die Ausweitung des Spielraums in den Zuschauerraum versetzt das Publikum nicht nur mitten ins Geschehen, es macht auch deutlich: Ishiguros Science-Fiction Szenerie ist nicht weit von unserer Wirklichkeit entfernt. Das Publikum im gut besuchten, wenn auch nicht gänzlich ausverkauften Großen Hause feierte das Stück mit enthusiastischem Applaus.

Weitere Vorstellungen am 20. Oktober und 1. November, jweils 20 Uhr, am 27. November , 19 Uhr sowie am 4. und 7. Janar 2017, jeweils 20 Uhr. Karten gibt es unter Telefon 08331/ 94 59 16 oder im Internet unter vorverkauf@landestheater-schwaben.de