Die Unterwasserszene gipfelt in einem lautlosen Schrei: Die wirklichen Opfer sexueller Gewalt bleiben meist stumm. Foto: Forster/Landestheater Schwaben.
Memmingen (as/es). In der irrwitzigen und vielschichtigen Inszenierung „Lügnerin“ im Großen Haus geht es um die Macht der Lüge und um die Fragwürdigkeit medialer (Selbst-)Darstellung. Das Premierenpublikum spendete den Machern und den geradezu virtuos agierenden Schauspielern der Uraufführung begeisterten Beifall.
„Manche Menschen werden durch die Wahrheit schön, und andere durch die Lüge“, heißt es in dem Roman der israelischen Schriftstellerin und Psychologin Ayelet Gundar-Goshen, den Niko Eleftheriadis gemeinsam mit LTS-Chefdramaturgin Anne Verna Freybott in einer rasanten Inszenierung auf die Bühne gebracht hat. Auch wenn ihr Name übersetzt „Seerose“ heißt: Die schüchterne, eher unscheinbare 17-jährige Nuphar ist eher ein Mauerblümchen. Durch die Legende ihrer angeblichen Vergewaltigung blüht die junge Frau auf, denn endlich erfährt sie, was sie ihr Leben lang so schmerzlich vermisst hat: Liebe, Aufmerksamkeit, Anerkennung und Zuwendung.
Narzisstische Ängste und Einsamkeit
Gewalt wurde Nuphar durchaus angetan, wenn auch „nur“ mit Worten: Ein Kunde des Eissalons, in dem das Mädchen in den Sommerferien arbeitet, beleidigt sie aufs Übelste, weil er, ein abgetakelter Schlagerstar, ein Ventil für seinen Frust braucht. Auch er hat Angst davor, nicht mehr gesehen zu werden, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Als Nuphar vor ihm (und sich selbst) wegläuft, verfolgt er sie, packt sie grob am Arm. In diesem Moment entlädt sich die jahrelang angestaute Verzweiflung des Mädchens in einem lauten und alarmierenden Schrei. Die herbeigelaufenen Helfer und Ordnungshüter wittern eine versuchte Vergewaltigung und interpretieren Nuphars Schluchzen als Zustimmung.
Vermarktung einer vermeintlichen Heldin
Der Ex-Star wandert in Untersuchungshaft, Nuphar wird berühmt, tritt im Fernsehen auf. Die „mutige Minderjährige“ wird zur Heldin und Vorbild für Frauen, die wirklich sexuelle Gewalt erlebt haben. Und ihre Umwelt, ja, sogar die Kommissarin, sorgt dafür, dass sie in ihrer Rolle und das Narrativ sexualisierter Gewalt erhalten bleibt. Nuphar, die in Soaps viel gelernt hat, wird im TV vermarket und verstrickt sich und einige Trittbrettfahrer, die von ihrem Rum profitieren wollen, immer weiter in Lügen und Phantasien.
Tel Aviv in Memmingen
Regisseur Niko Eleftheriadis greift tief in die multimediale Trickkiste, um der schrägen Erzählung eine adäquate Bühne zu geben und Tel Aviv in Memmingen anzusiedeln. Der Zuschauer braucht volle Aufmerksamkeit, um die im Wechsel zwischen Film und Bühne und auf wechselnden Erzählperspektiven präsentierten Handlungsstränge zusammenzufügen. Hochachtung vor den drei in schlichte graue Overalls gewandeten Schauspielern Elisabeth Hütter, Franziska Roth und Tim Weckenbrock, die nicht nur in schnellem Wechsel in verschiedene Rollen schlüpfen, sondern diese auch noch tauschen – um dann beim Spiel „Wahrheit oder Pflicht“ gänzlich aus der Rolle zu fallen.
Das karge Bühnenbild mit Kantinenflair von Heike Mondschein „kann“ Polizeirevier ebenso wie Fernsehstudio. Immer wieder fährt die Leinwand herunter, um die Gesichter der Protagonisten, die dahinter agieren, in Nahaufnahme zu zeigen. Eindringliche Monologe werden so verstärkt. Filmsequenzen, die vor anderthalb Jahren entstanden sind, zeigen Schauplätze wie Ottos Eisdiele und das Cambomare in Kempten, wo Unterwasserszenen gedreht wurden.
Drei fidele rosarote Schweinchen
Am Ende des 90-minütigen Schauspiels weichen graue Hinterhöfe und Parkdecks auf der Leinwand saftigem Grün: Zur Gaudi des Publikums tollen die drei Schauspieler in aufblasbaren Schweinchenkostümen fröhlich über eine Wiese: Ayelet Gundar-Goshen spricht in ihrer Erzählung von einer skurrilen Schweicheninvasion vor Israel Küste, die den Gazastreifen höchst verdächtigerweise verschont. Nuphar ist vergessen, sprichwörtlich könnte man sagen, dass eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird. Die Schweinchen-Szene ist symptomatisch für den Tenor der Erzählung: Der Text trieft vor Ironie und einem zuweilen etwas boshaften Humor.
Sehr mutige Inszenierung
Im Zeitalter von #MeToo, Feminismus und Gender-Mainstreaming ist „Lügnerin“ eine sehr mutige Inszenierung, die als Hinweis darauf verstanden werden könnte, dass auch das „politisch Korrekte“ zuweilen inszeniert und heuchlerisch sein kann.
Weitere Aufführungen am 3., 19., 25., 27. und 28. Mai um 20 Uhr sowie am 1., 8., 15. und 29. Mai um 19 Uhr.