Wie schütze ich meine Lebenslinie? Diese und viele weitere Techniken lernen die Klinikums-Pflegekräfte von Deeskalationstrainer Christian Löckher-Hiemer. Foto: Häfele/ Pressestelle Klinikum Memmingen
Memmingen
(as). Vier Mal im Jahr organisiert Dr. Rupert Grashey, Leiter der Notfallklinik
am Klinikum Memmingen, Deeskalationskurse für die Pflegekräfte der
Notfallklinik und der chirurgischen Ambulanz. Das sind die Brennpunkte, wenn es
um Aggressionen gegen Pflegepersonal geht. Auch Kerstin Pöppel und Claudia
Baumgärtner haben den Selbstverteidigungskurs besucht. Lokale-Redakteurin Antje
Sonnleitner sprach mit ihnen über ihre Erfahrungen im Berufsalltag.
„Ich könnte ein Buch schreiben über das, was
ich hier bereits erlebt habe“, erzählt die 31-jährige Gesundheits- und
Krankenpflegerin Kerstin Pöppel. Seit sieben Jahren arbeitet sie in der
chirurgischen Notaufnahme. „Ich mache viele Bereitschaftsdienste, arbeite oft
am Wochenende und meistens nachts.“
Die größten Probleme bereiten jedoch alkoholisierte, meist junge Männer, die sich geprügelt oder randaliert haben. „Hochsaison ist vor allem im Sommer, wenn die Leute lange draußen sind, feiern und grillen“, erzählt Pöppel. „Die betrunkenen Patienten sind meist zwischen 18 und 30 Jahre, einige auch erst 13 oder 14. Viele von ihnen lassen sich von mir als Frau nichts sagen, vor allem die südländischen.“ Bewaffnet sind die aggressiven Patienten nur sehr selten. „Ich darf zu meiner Verteidigung Tränengas dabei haben, nehme aber, wenn‘s kritisch wird, lieber meinen Schlüssel in die Hand“, sagt die Krankenpflegerin.
„Wir sind dann der Prellbock“
Manche Patienten oder Angehörige (die gern in Gruppen auftreten, obwohl nur einen Begleitperson zugelassen ist) reagieren auch aggressiv, weil sie nicht gleich behandelt werden. Davon kann auch Claudia Baumgärtner, Krankenschwester in der Notfallklinik am Memminger Klinikum, ein Liedchen singen: „Der Alkohol spielt bei uns keine große Rolle, betrunkene Patienten werden erst zu uns gebracht, wenn sie bewusstlos sind. Aggressiv werden die Patienten bzw. die Angehörigen vor allem, wenn sie warten müssen“, erklärt Baumgärtner. „Das passiert nicht jeden Tag, aber leider viel zu oft. Und wir sind dann der Prellbock, denn der Dampf wird immer an den Schwestern abgelassen. Der Arzt ist eine Respektsperson.“
„Wir können die Wartezeit aber nicht beeinflussen“, konstatieren die Kolleginnen übereinstimmend. Manchmal kommt auch jemand eher dran, der später gekommen ist, wenn der betreffende Facharzt gerade Dienst hat“, erläutert Baumgärtner. „Nach einer Blutabnahme dauert das Labor zwei Stunden und am Wochenende ist der Oberarzt im ganzen Haus unterwegs und hat nicht immer gleich Zeit, sich die Befunde anzuschauen.“ Dazu kommt, dass Patienten, die Schmerzen haben, vorrangig versorgt werden. Werden akute Notfälle eingeliefert, müssen alle warten, denn: „Mit einem schwer Verletzten sind wir drei Stunden beschäftigt“, so Pöppel. „In München und Berlin beschwert sich darüber keiner, aber in Memmingen schon.“ Vor allem junge Leute seien auffallend unhöflich“, ergänzt ihre Kollegin.
Dabei wären zumindest in der Notfallpraxis lange Wartezeiten vermeidbar - wenn wirklich nur Notfälle kämen: „Ich verstehe die Beweggründe oft nicht, viele Patienten kommen aus Bequemlichkeit oder weil sie beim Haus- oder Facharzt keinen zeitnahen Termin bekommen und meinen, dass es bei uns schneller geht“, meint Claudia Baumgärtner. „Oft habe ich keinen einzigen wirklichen Notfall am Tag zu versorgen!“.
Verbale Attacken im Gassenjargon
„Manche Patienten kommen schon so anklagend, als seien wir schuld an ihrer Krankheit“, erzählt sie weiter. Handelt es sich um Menschen mit Migrationshintergrund, wird gern die Keule der Ausländerfeindlichkeit gezückt. „Wir müssen uns üble Beschimpfungen anhören“, bestätigt Kerstin Pöppel. Einmal wurde sie von einem widerwillig Wartenden sogar als „Nazischlampe“ tituliert, während Claudia Baumgärtner von einer älteren deutschen Patientin als „Türkenhexenbrut“ bezeichnet wurde.
Neben verbalen Attacken im Gossenjargon gibt es auch sexuelle Andeutungen und auch Übergriffe wie der Griff an den Po. "Ein richtiger Angriff ist selten, doch nach ein paar solcher Grenzüberschreitungen am Tag geht man heim und ist fertig.“
„Manche Patienten sind unberechenbar“
Auch tätliche Angriffe gab es bereits: im Februar wurde Kerstin Pöppel von einem betrunkenen Patienten mit über drei Promille in den Bauch getreten und musste selbst behandelt werden.
„Es kommt auch vor, dass Patienten um sich schlagen, weil sie Angst haben“, erzählt ihre Kollegin. Ich bin bereits seit 25 Jahren im Beruf und sehe schon an der Mimik und Gestik, ob jemand problematisch sein könnte. Doch manche Patienten sind einfach unberechenbar.“ Vor ein paar Wochen hat ein 80-jähriger Demenzkranker ihr einen Faustschlag in den Magen versetzt. Dabei musste er nur auf Toilette und konnte das nicht kommunizieren.
„Ich ermahne mich stets, immer freundlich zu sein und zu lächeln. Das ist nicht immer einfach, entschärft die Situation aber manchmal“, sagt die sportliche Gesundheits- und Krankenpflegerin Pöppel, die in ihrer Freizeit einen Boxclub besucht. „Wenn jemand wütend ist, nutzt es nichts, zu argumentieren. Dann muss man Verständnis signalisieren, auch wenn die Sanitäter warten und das Telefon gerade klingelt“, bestätigt ihre Kollegin von der Notfallklinik. Auch solche Dinge lernt man im Eskalationskurs.
„Das Training ist hilfreich“, meinen beide Pflegekräfte übereinstimmend. Wir lernen wirkungsvolle Techniken, zum Beispiel wie wehre ich mich, wenn mich jemand von hinten packt. Auch über Terror haben wir gesprochen. Man ermutigt uns auch, gegebenenfalls Anzeige schon zu erstatten.“ Kerstin Pöppel bedauert, dass es am Klinikum Memmingen keinen Sicherheitsdienst gibt. „Das wäre ein großer Fortschritt. Wir würden uns sicherer fühlen.“
„Ein Sicherheitsdienst wäre hilfreich“
Anders als die chirurgische Ambulanz ist die Notfallklinik auch zu „unchristlichen Zeiten“ mit mindestens zwei Pflegekräften besetzt. „Wir können auch jederzeit jemanden dazu holen, wenn es kritisch wird“, sagt Claudia Baumgärtner. Doch einen Sicherheitsdient fände auch sie sinnvoll: „Ein Sicherheitsdienst wäre hilfreich, vor allem von 20 Uhr bis 6 Uhr morgens, eventuell schon an der Pforte, damit nicht jeder rein kommt und sich unüberwacht in den Stationen aufhalten kann.“ Es sei immer wieder verblüffend, was allein die Anwesenheit eines Polizeibeamten bzw. einer Person in Uniform bewirke, meinen beide übereinstimmend. „Da sind hackedichte Fernfahrer plötzlich brav.“
Es gibt aber auch Erfreuliches zu berichten: „Natürlich bekommen wir auch viel Lob und positive Rückmeldungen“, bestätigt Baumgärtner. „Seit das Klinikum in Leutkirch geschlossen ist, haben wir viel mehr Patienten als vorher und einige von denen sagen, dass sie nach Memmingen kämen, ‚weil hier alle so nett sind‘.“