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"Noch ist es nicht zu spät für eine Umkehr!"

Memmingerinnen fordern ein Neudenken des Bahnhofsareals

veröffentlicht am 02.05.2019
Bahnhofsareal

Diese grafische Visualisierung stimmt mit der tatsächlichen Planung des Investors Ten Brinke nicht überein, kritisieren die Memmingerinnen Beate Breiter und Irmgard Mulzer-de Crignis. Die Grafik zeigt eine Flaniermeile in der Bahnhofstraße, die aufgrund dieser Planung jedoch gar nicht realisiert werden kann. Auf dem Bild sind nämlich weder die vorgesehene Tiefgaragenein- und -ausfahrt (links neben dem Hoteleingang) noch die beiden LKW-Zufahrtswege für die Belieferung des geplanten riesigen Supermarktes (rechts neben dem Hotel) sichtbar. Grafiken: Ten Brinke, Repro: Sonnleitner

Plan Bhf

Auf dieser Grafik, die auf der Website der Stadt Memmingen unter https://www.memmingen.de/aktuell/informationen/bauprojekte/bahnhofsareal.html zu finden ist, sind die oben beschriebenen Zonen für Ein- und Ausfahrten von Tiefgarage und Supermarkt zum Vergleich mit der oben abgebildeten Grafik eingezeichnet (bitte anklicken zum Vergrößern!).

Memmingen (dl/as). Die beiden Memmingerinnen Beate Breiter und Irmgard Mulzer-de Crignis haben uns einen Leserbrief zugesandt, in dem sie eine Abkehr von dem vom Stadtrat befürworteten Konzept des Bahnhofsareal (der Entwurf des Investors Ten Brinke, wir berichteten) anregen zugunsten eines bürgerfreundlicheren Konzepts. "Uns liegt das Wohl der Memminger Bürger/innen am Herzen", heißt es in dem Schreiben. "Deshalb ist es uns wichtig, auf dieser kostbaren Fläche bezahlbaren Wohnraum zu schaffen."

Die beiden Bürgerinnen sprechen sich für eine gesunde, abwechslungsreiche Mischung von Miet- und Eigentumswohnungen aus, die kleinere Gewerbeeinheiten und Freizeitangebote beinhaltet wie zum Beispiel Kinderspielplatz, Raum für Jugendliche, Übungsraum für Musikbands, Boulderwand, Gemeinschaftsräume für Festivitäten und Freiflächen für Märkte und Feste.

Hier ihre Argumente für ein Umdenken beim Bahnhofsviertel:

Als das Projekt 2012 ausgeschrieben wurde, war die Idee eines Supermarktes sinnvoll. Doch heute hat die Bahnhofsstraße zwei große Supermärkte, mit den entsprechenden Parkplätzen. Und wenn kranke oder gehbehinderte Menschen die ca. 500 Meter bis dorthin nicht zurücklegen können, kann man Lebensmittel-Bringdienste einrichten, so wie sie in anderen Städten schon Realität sind und dort gut funktionieren. Bei REWE in der Münchner Straße z.B. gibt es jetzt schon einen Abholservice.

Heutzutage ist die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum eine zwingende Notwendigkeit! Wer 2019 auf einer projektierten Fläche von knapp 17.000 Quadratmetern nur 3.700 Quadratmeter, also nur 22 Prozent, für Wohnraum einplant, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden.

War nicht eine der Zielvorgaben des Stadtrates: „Belebung des Quartiers und des Umfeldes“? Doch, was bedeutet denn: „Ein Viertel beleben?“ . Tragen Autofahrer/innen, die in der schmalen Bahnhofstraße versuchen, in die Tiefgarage ein- oder auszufahren und im Supermarkt ihre Einkäufe zu erledigen, zur Belebung bei? - Nein, denn es gibt nur mehr Verkehr, mehr Stau, mehr Gestank, mehr Feinstaub, mehr Stress - aber nicht mehr Leben. Entsteht nicht "Belebung" dort, wo Menschen leben? Ein vitales Stadtquartier entsteht dort, wo wir uns gerne aufhalten, wo wir uns treffen, wo wir gerne gemeinschaftlich sind. Wir Menschen, die hier leben, und gerne hier leben, „beleben“ unsere Stadt.

Ein beliebiges Viertel geplant

Die Planer ( - wo waren denn die Stadtplaner?) haben ein Viertel geplant, das sich beliebig irgendwo befinden könnte. Aber sie hatten überhaupt nicht realisiert, welch regionales Potential der Bahnhof bietet! Die Planung muss vom Bahnhof aus gedacht werden: Denn der Memminger Bahnhof ist nicht ein 08/15-Bahnhof an einer belanglosen Strecke. Das ist ein besonders wichtiger Bahnhof, denn er liegt am Knotenpunkt einer Ost/Westachse mit einer Nord/Südachse. Von Memmingen aus sind alle Himmelsrichtungen erreichbar. Wäre das Bahnhofsareal ein Wohnviertel, hätten die Glücklichen, die da wohnen, die Chance, ihre diversen, evtl. auch weit entfernten Arbeitsplätze mit der Bahn zu erreichen.

Von allen Himmelsrichtungen aus erreichbar

Und umgekehrt: Memmingen ist von allen Himmelsrichtungen aus erreichbar. Wenn also zusätzlich zum attraktiven Wohngebiet noch ein atmosphärischer Bahnhofsplatz gestaltet wird, der nicht nur die Kunsthalle mit einbezieht, sondern wo auch eine lichte Restauration oder besser noch ein Tagungszentrum geplant ist, in dem man nicht nur Kaffee trinken kann, sondern auch ein Treffen mit Freund/innen oder Geschäftspartnern möglich ist, dann wird nicht nur das Viertel, sondern die Stadt wirklich belebt.

Das habe ich, Beate Breiter, es auf dem Bahnhofsplatz von Siegburg erfahren dürfen. Diese Stadt Siegburg mit 42.000 Einwohnern liefert für Interessierte sehr spannende, positive Anregungen im Sinne einer „Bürgerbeteiligung bei der Stadtviertel-Planung“. Zu finden sind sie unter: siegburg.de/stadt/planen-bauen/ISEK/2.Bürgerwerkstatt. Dort ist gelebte Wirklichkeit, was Memmingens engagierte, junge Menschen für unsere Stadt fordern.

Flaniermeile wird vorgegaukelt

Wenn wir nun den uns vorliegenden Plan für Memmingen ansehen, kommen wir ins Grübeln. In den Medien wurde eine Visualisierung der Ansicht von der Bahnhofstraße aus dargestellt. Wenn man nun aber dieses Foto (siehe oben) mit dem Plan vergleicht, wird man feststellen, dass Ansicht und Plan in keiner Weise übereinstimmen. Weder Tiefgaragenein- und -ausfahrt (links neben dem Hoteleingang) noch die beiden LKW-Zufahrtswege für die Belieferung des Riesensupermarktes (rechts neben dem Hotel) sind sichtbar. Im Bild wird uns eine Flaniermeile vorgegaukelt, welche aufgrund dieser Planung nicht realisiert werden kann.

Für uns ist ein Planer, der es zulässt, dass die Visualisierung etwas ganz anderes suggeriert als im Plan projektiert ist, als Geschäftspartner indiskutabel - und sollte es erst recht für unsere Stadträtinnen und Stadträte sein.

„Wer verscherbelt denn ohne Not sein Tafelsilber?“

Ist es verantwortungsbewusst, das ganze Areal von 7.700 Quadratmetern an einen Großinvestor abzugeben? Nein, denn eine Stadt gehört ihren Bürgerinnen und Bürgern. Wer verscherbelt denn ohne Not sein Tafelsilber?

Hans Jochen Vogel, der inzwischen 93-jährige ehemalige SPD-Oberbürgermeister von München, späterer Bundesminister für Bauwesen und dann Bundesjustizminister, hatte sich schon vor 50 Jahren mit diesem Thema befasst: „Wie erhalten wir das Leben in den Stadtvierteln?“. Seine Erkenntnis war so weitsichtig, dass sie heute noch Gültigkeit hat: "Öffentliche Grundstücke sollten nicht mehr an den vergeben werden, der am meisten dafür zahlt, sondern an den, der im Sinne des Gemeinwohls das beste Konzept dafür liefert.“

Wie deutsche Städte gegenwärtig aussähen, wenn seine Bodenreform durchgegangen wäre? „Wir würden uns heute den Wiener Verhältnissen annähern“, betont Vogel. „Dort wohnen etwa zwei Drittel der Menschen in Wohnungen der öffentlichen Hand, mit Mieten, die moderat bis günstig sind.“ ( Zitat aus Süddeutsche Zeitung, 15. 02.2019, Seite 3.)

Interessant hierzu: Es gibt u.a. Schweizer Architektengruppen, die mit ihren Netzwerkern (Baugruppen, Genossenschaften, Handwerkern, Eigentümern, Mietervereinen etc.) riesige ehemalige Industrieareale in lebendige Wohngebiete umwandeln. Und zwar „kostendeckend, aber nicht profitorientiert“, erklärte kürzlich die Architektin Barbara Buser im Interview in srf2.ch (Schweizer Rundfunk). Sie war schon vor 25 Jahren hierfür die Hauptinitiatorin.

Weiterführende Links und Infos:

Heilbronn – eine Stadt entwirft sich neu/Episode 2

www.see-und-stadt-und-bregenz.at – Zehn-Punkte-Programm für die Stadtentwicklung

www.wagnis.org >Projekte> Realisierte Projekte> wagnisART

https://www.koncepthotels.com/hotel-benedikt-siegburg/#/booking/search

www.siegburg.de/stadt/planen-bauen/>ISEK

www.sueddeutsche.de/muenchen/wohnen-steigende-baulandpreise-sind...

www.insitu.ch/baubüroinsitu > Themen und www.insitu.ch > Projekte

www.denkstatt-sarl.ch/barbara -buser

Aktuelle Broschüre im Memminger Baumarkt: BAUHAUS: Wie wollen wir wohnen/Interview mit Städteforscher Charles Landry, Seite 8 f.

www.spiegel.de/socialdesignaward

Rolf Dobelli: Die Kunst des klugen Handelns