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Häusliche Gewalt hat viele Gesichter

Silvia Nuber vom Frauenhaus Memmingen spricht über ihre Arbeit

veröffentlicht am 22.04.2020
Frauenhaus

Häusliche Gewalt spielt sich im Verborgenen ab. Umso wichtiger sei es, im eigenen Umfeld auf Anzeichen zu achten und sensibel darauf zu reagieren, sagt Silvia Nuber vom Memminger Frauenhaus. Symbolfoto: pixabay

Memmingen (as). Zumindest in Memmingen scheint die Corona-Krise keine zusätzliche häusliche Gewalt hervorgebracht zu haben. Doch die Arbeit des Frauenhauses ist keineswegs nur in Krisenzeiten bedeutsam und „systemrelevant“. Lokale-Redakteurin Antje Sonnleitner sprach mit Sozialpädagogin Silvia Nuber, die bereits seit 18 Jahren im Frauenhaus arbeitet.

Frau Nuber, in den letzten Wochen mit Kontaktsperre und Ausgangsbeschränkungen wurden wir alle auf unser häusliches Ambiente zurückgeworfen, was für konfliktbelastete Partnerschaften und Familien sicherlich eine große Herausforderung war. Haben sich in dieser Zeit mehr Frauen bei Ihnen gemeldet?

Nein, zu unserer Überraschung gab nicht mehr Aufnahmen oder telefonische Beratungen als sonst.

Wie viele Frauen und Kinder welcher Nationalitäten wohnen derzeit im Memminger Frauenhaus?

Wir haben eine Belegung von über 90 Prozent. Die Nationalitäten variieren von Jahr zu Jahr. Im letzten Jahr hatten 53 Prozent der Frauen einen deutschen Pass, 24 Prozent stammten aus osteuropäischen Ländern und sechs Prozent aus unterschiedlichsten Ländern wie zum Beispiel Syrien, Korea, Griechenland und Türkei.

Können Sie aus Ihrer Erfahrung heraus das klassische Vorurteil, dass Gewalt vor allem in Migrantenfamilien auftritt, bestätigen?

Nein, Gewalt zieht sich durch alle Nationalitäten und durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch. Sie ist mitten unter uns, auch wo man sie nicht vermutet: Viele der betreffenden Männer sind nach außen hin freundlich und zuvorkommend und lassen ihren Frust dann zu Hause an ihren Frauen aus.

Sind auch die Kinder der Familien von Gewalt betroffen?

Die Kinder sind immer betroffen, ob direkt oder indirekt, sie leben in einer Atmosphäre der Angst, sie hören die Schreie und Schläge nebenan, auch wenn die Eltern sich gern einreden, sie schliefen und würden nicht mitbekommen, was zu Hause abläuft. Deshalb sagen wir den Frauen: Geht auch um eurer Kinder willen!

Wie sind die Frauen untergebracht? Hat jede Bewohnerin ein eigenes Zimmer?

Wir haben Platz für fünf Frauen, verteilt auf zwei Wohnungen, die gegebenenfalls mit ihren Kindern in einem Zimmer wohnen, Bei drei Kindern oder mehr versuchen wir, ein zweites Zimmer zur Verfügung zu stellen. Das Zusammenleben muss man sich wie in einer WG vorstellen. Den Haushalt machen die Frauen selber, sie gehen einkaufen, kochen und versorgen die Kinder. Manche von ihnen gehen auch arbeiten.

Was haben Frauen erlebt, die zu Ihnen kommen? Erfahren die Frauen, die sich ans Frauenhaus wenden, alle körperliche Gewalt oder geht es auch um andere (z.B. psychische) Konflikte?

Ja, es geht keineswegs nur um physische Gewalt und das klassische blaue Auge - auch sexuelle und ökonomische und vor allem psychische Gewalt sind in unterschiedlichen Ausprägungen vorhanden. Wenn die Gewaltbeziehung länger anhält, geht das Selbstwertgefühl verloren. Dann kommen die Frauen zu uns und sind ganz „klein“. Unser Job ist es dann, sie in Einzel- und Gruppengesprächen wiederaufzubauen.

Wie hat sich die partnerschaftliche Gewalt in den letzten Jahren entwickelt? Gab es in den letzten Jahren irgendwelche Veränderungen?

Eine neue Dimension ist die Cybergewalt: Männer nutzen die sozialen Medien, um ihre Frauen schlecht zu machen, wenn sie sich von ihnen trennt. Dann werden Unwahrheiten verbreitet oder peinliche Bilder gepostet. Und das Netz vergisst nichts.

Wie kann man sich den Ablauf der Aufnahme vorstellen? Angenommen, eine Frau meldet sich über die 24-Stunden aktive Telefonnummer, weil sie sich und ihre Kinder in Sicherheit bringen will. Direkt „anklopfen“ geht ja nicht, weil die Adresse des Frauenhauses geheim ist. Was geschieht dann?

Die Frau bekommt eine Packliste und wird darüber informiert, dass sie zum Schutz aller ihr Handy abgeben und sich eine neue SIM-Karte besorgen muss, sie darf die Adresse vom Frauenhaus nicht weitergeben und sie muss sich mit dem Wohnen und Zusammenleben in der WG arrangieren. Erklärt sie sich damit einverstanden, vereinbaren wir ein Treffen in unserem Beratungsbüro in der Schwesternstraße 8 und bringen die Frau von dort aus ins Frauenhaus.

Halten sich die Frauen an das Gebot der Geheimhaltung?

Ja, das Memminger Frauenhaus gibt es seit 25 Jahren und wir mussten erst einmal umziehen, weil die Anonymität nicht mehr gewährleistet war. Im Stadtgebiet lässt es sich nicht vermeiden, dass die Nachbarn Ein- und Auszüge mitbekommen. Doch wir haben unsere Vorsichtsmaßnahmen, das Haus ist geschlossen - auch wenn jemand klingelt, machen wir nicht auf. Bislang ist noch keiner der Männer, vor denen wir die Frauen schützen, vor dem Haus aufgetaucht.

Wenn eine Frau sich entschlossen hat, ihren Mann zu verlassen, wie geht es dann weiter?

Wenn sie ein neues, selbstständiges Leben aufbauen will, helfen wir ihr bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Die Hilfe reicht vom Eröffnen eines eigenen Kontos bis hin zur Vermittlung eines Therapeuten. Wir unterstützen die Frauen aber nur, soweit sie das möchten, es geht schließlich um Hilfe zur Selbsthilfe. Unsere Klientinnen müssen ihre Entscheidungen selber treffen und wenn sie nach Hause zurückwollen, akzeptieren wir das. Einige kommen auch wieder, weil sie mehrere Anläufe brauchen. Oft zieht sich der Prozess der Abnabelung über viele Jahre hin. Es ist ja nicht so, dass die Männer ständig böse sind und schlägern, es gibt ja auch gute Zeiten in so einer Beziehung. Nach einer Gewalttat bereuen viele Männer ihr Verhalten und entschuldigen sich, dann schöpfen die Frauen wieder Hoffnung, doch nach einer Weile geht alles von vorne los.

Kehren viele Frauen wieder in Ihre bedrückenden Umstände zurück? Wie hoch ist Ihre Erfolgsquote?

Im letzten Jahr ist es immerhin 58 Prozent der Frauen gelungen, sich ein eigenes Leben mit ihren Kindern aufzubauen, das ist ein sehr großer Erfolg unserer Arbeit! 18 Prozent sind wieder zu ihren Partnern in die gewaltgeprägte Situation zurückgegangen. 24 Prozent gingen in eine andere soziale Einrichtung oder zogen zu Verwandten

Ihnen sind sicherlich schon viele unterschiedliche Schicksale misshandelter und unterdrückter Frauen begegnet. Was ist für Sie persönlich an der Arbeit mit den geschädigten Frauen das Wichtigste, was motiviert Sie dazu?

Jede Frau, die es geschafft hat, die ihr Leben und das ihrer Kinder wieder im Griff hat ein Leben ohne Gewalt führt, ist eine Motivation für unsere Arbeit.

Gibt es noch etwas, was sie unseren Lesern ans Herz legen möchten?

Ja, sensibel zu sein was das Thema häusliche Gewalt betrifft - sei es in der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz. Und betroffene Frauen auf die Beratungsstelle hinzuweisen, die 24 Stunden am Tag erreichbar ist. Unter Telefon 08331 4644 kann man einen Termin für ambulante Beratungen vereinbaren. Eine Beratung verpflichtet keinesfalls zum Einzug ins Frauenhaus!

Um Frauenhäuser zu stärken und Missständen entgegenzuwirken, will die Bundesregierung bis 2023 insgesamt 120 Millionen Euro in den Aus-, Um- und Neubau von Frauenhäusern und Beratungsstellen in Deutschland investieren. Das wurde im Oktober 2019 mit dem Investitionsprogramm "Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen" beschlossen. Wird hiervon auch das Memminger Frauenhaus profitieren?

Ja, es gibt ein Investitionsprogramm der Bayerischen Staatsregierung zum Ausbau von zusätzlichen Frauenhausplätzen. Davon profitieren auch wir, wir bauen jetzt gerade unser Dachgeschoss aus und vergrößern von fünf auf sieben Plätze.

Vielen Dank für das informative Gespräch, Frau Nuber!

Info: Träger des Frauenhauses Memmingen ist der Verein zum Schutz misshandelter Frauen und Kinder. Dort arbeiten Sozialpädagoginnen und Erzieherinnen, jeweils in Teilzeit. Das Frauenhaushaus ist 24 Stunden am Tag unter der Telefonnummer 08331 4644 zu erreichen. Außerhalb der Bürozeiten von acht bis 16 Uhr nehmen ehrenamtliche Mitarbeiter die Gespräche an.