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Europas Perspektiven nach dem Brexit: "Wir müssen ehrlich Bilanz ziehen“

veröffentlicht am 01.12.2016
Europas Perspektive nach dem Brexit

Oberbürgermeister Markus Kennerknecht dankt Professor Friedrich Heinemann für seinen Vortrag über "Europas Perspektiven nach dem Brexit" im Sitzungssaal des Memminger Rathauses. Foto: Sonnleitner

Memmingen (as). Die Entscheidung des Vereinten Königreichs zum Austritt aus der EU markiert eine Zäsur im europäischen Integrationsprozess. Welche Folgen hat der Brexit und wie sieht die Zukunft der EU, auch vor dem Hintergrund des Vormarsches rechtspopulistische Parteien, aus? Auf Einladung des Europabüros der Stadt Memmingen referierte der Volkswirt Prof. Dr. Friedrich Heinemann im Rathaus vor Vertretern aus Politik und Wirtschaft über "Europas Perspektiven nach dem Brexit".

„Ich würde gerne auch mal kommen, wenn Europa nicht in der Krise ist“, eröffnete Heinemann seinen Vortrag mit einer Prise Galgenhumor. Der Brexit habe eine "gefährliche Phase der Unsicherheit" eingeläutet, die schlecht für die europäische Einheit und „Gift für die britische und europäische Ökonomie“ sei. Zudem verschiebe sich durch das “Experiment“ der Briten das Machtgleichgewicht in Europa zugunsten staatsinterventionistischer Länder. Deutschland sei nun nicht mehr in der Position, Mehrheitsbeschlüsse verhindern zu können. Die Folge sei „mehr Staat“ in der Europäischen Union.

"Die Briten haben mehr zu verlieren"

„Dabei ist es klar, wer der Stärkere ist: Die Briten haben mehr zu verlieren“, so der Referent. Immerhin behindern Zollschranken nach dem Austritt aus der EU britische Exporte auf den Europäischen Binnenmarkt. Der Brexit bedeute auch das Ende des Freihandels mit den Freihandelspartnern der EU. Heinemann präsentierte eine eindrucksvolle Liste von Ländern, zu denen nach CETA auch Kanada gehören wird, zu denen die Briten keinen Binnenmarktzugang mehr hätten. Zudem verliere Großbritannien seine Attraktivität für Direktinvestitionen sowie den europäischen Finanzpass.

Wie die neue Beziehung zwischen Großbritannien und der EU-27 aussieht, hänge von vielen Faktoren ab. Gibt es den "Soft-Brexit", auf den die UK hofft? Ein „harter Brexit“ würde bedeuten, dass der Wohlstand im Vereinigten Königreich langfristig um bis zu 7,5 Prozent sinken könnte. “Dies ist ein nennenswerter Wohlstandsverlust, doch davon wird das Vereinigte Königreich nicht untergehen", relativierte Heinemann. 

„Binnenmarktzugang versus Souveränität“

Heinemann sprach von einem Brexit-Paradox „Binnenmarktzugang versus Souveränität“ – Letztere sei hart erkauft, zumal der Nettobeitrag der Briten mit 79 Euro pro Kopf relativ gering gewesen sei. In Hinsicht auf die „große Sorge Migration“ zeigte der Volkswirt auf, wo die Briten in der Vergangenheit Spielraum gehabt hätten, der Freizügigkeit zu begegnen.

Ob der Brexit wirklich komme, sei allerdings noch nicht klar, so der Referent. Dass das Parlament zustimmen müsse, mache einen „Brexit-Exit“ wahrscheinlicher. Zumal: „Wenn die Frist erst einmal läuft, reichen zwei Jahre für die komplexen Austrittsverhandlungen nicht aus“, konstatierte Heinemann. Zu viele Fragen seien zu klären.

Erschwerend komme auch hinzu, dass die britische Regierung kein konkretes Konzept für den Brexit habe.  „Es fehlen Tausende Beamte“. Wenn sie die Expertise der europäische Kommission nicht mehr in Anspruch nimmt, müsse die britische Staatskasse hohe Ausfälle kompensieren - nicht nur in der Außen-und Handelspolitik, sondern auch im Bereich Landwirtschaft, Forschung und Strukturpolitik. Theresa May habe bereits viele Versprechen für Ersatzleistungen gemacht. „Offenbar ist doch nicht alles, was in Brüssel gemacht wird, so unsinnig“, folgerte Heinemann, der dem Rednerteam der Europäischen Kommission angehört.

"Macht und finanziert Europa die richtigen Dinge?"

"Wir müssen ehrlich Bilanz ziehen“, plädierte der Fiskal- und Steuerpolitik-Experte. „Europa hat große Potenziale, seine Aufgaben zu verbessern und ineffiziente Doppelstrukturen aufzulösen." Durch einen gesamteuropäischen Ansatz ließen sich Einsparungspotenziale erzielen. „28 Armeen, 28 Hauptquartiere...“ - in Bereichen wie Verteidigung, Flüchtlingsaufnahme und Entwicklungshilfe könne man Aufwand und Ressourcen sparen, wenn sie auf europäischer Ebene behandelt würden. „Wer kann was besser?“ - Unter diesem Motto gälte es, die Kompetenzen zwischen den Nationen und der Europäischen Gemeinschaft neu zu verteilen, "um die Dinge effizienter zu machen und miteinander wohlhabender zu werden", forderte Heinemann.

Win-win-Situation statt Idealismus

Die Solidarität in Europa ließe sich nur fördern, wenn man die Vorteile der EU für einzelne Länder aufzeige, statt europäischen Idealismus einzufordern, erkannte der Referent. Möglicherweise müsse man flexiblere Kooperationsmodelle entwerfen, anstatt nur über Partizipationsmodelle zu reden, antwortete er auf eine der zahlreichen Fragen aus dem Publikum.

Info: Prof. Dr. Friedrich Heinemann leitet den Forschungsbereich "Öffentliche Finanzen" am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim. Er ist außerdem Dozent für Volkswirtschaft an der Universität Heidelberg. Heinemanns Forschungsschwerpunkte sind die Fiskal-und Steuerpolitik in Europa. Er war unter anderem Gutachter in den Anhörungen des Bundestags und Bundesverfassungsgerichts zum ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) und Fiskalvertrag.