Ein starkes Duo: Elisabeth Hütter und Tim Weckenbrock in der Inszenierung von Mirko Böttcher. Pressefoto: Forster/Landestheater Schwaben
Memmingen (as). „Es gibt Nazis, die aufhören, Nazis zu sein“ - Stürmischer Beifall belohnte die gelungene Uraufführung von „Ein deutsches Mädchen“ mit Elisabeth Hütter und Tim Weckenbrock im Studio des Stadttheaters. Bei dem Stück handelt es sich um die Bühnenfassung der gleichnamigen, 2017 erschienenen, Bestsellers von Heidi Benneckenstein, in dem die junge Autorin ihr Leben in einer Neonazi-Familie beschreibt.
Nein, sie entstammt keinem dumpf-brütenden, braunen Sumpf: Heidi, mit nordischem Namen Heidrun, ist der Spross einer unauffälligen Mittelstandsfamilie aus einem idyllischen Ort im Münchner Speckgürtel. Den Geist des Nationalsozialismus hat sie mit der Muttermilch aufgesogen. Von klein auf völkisch erzogen, wurden sie und ihre drei Schwestern systematisch und notfalls mit Gewalt zu einer braunen Elite herangezüchtet, die am Tag der Machtübernahme das Führungspersonal des Vierten Reiches stellen sollte. Für ihren tyrannischen Vater hat es den Holocaust nie gegeben und der Krieg ist noch lange nicht zu Ende. Im Keller hortet die Familie Lebensmittel und Waffen, „weil die Amis jeden Moment zuschlagen können“. Heidi lebt im Gefühl ständiger Angst und Bedrohung. Im konspirativen Ferienlager der "Heimattreuen Deutschen Jugend" (HDJ) erlebt sie militärischen Drill, Wettkämpfe und Kriegsspiele. Heidi wird auf Zucht und Ordnung, Gehorsam und Disziplin, Leistung und Sieg gedrillt.
Die braune Fassade bröckelt
In der Pubertät gerät Heidrun Redeker immer tiefer in die Neonazi-Szene hinein, wird selbst gewalttätig, prügelt sich mit Punks, geht auf Nazi-Konzerte und verletzt beim Begräbnis eines Altnazis gemeinsam mit ihren Kameraden einen Pressefotografen schwer. Heidrun lernt den rechten Liedermacher "Flex" kennen, beide machen Erfahrungen, die sie zunehmend an ihrem gemeinsamen Weltbild zweifeln lassen. Mit 17 trägt Heidi selbst die Verantwortung für ein werdendes Leben und ihr wird klar, dass der Kampf, den Felix und sie führen, nur in ihrer Fantasie existiert. "Die deutschen Patrioten gegen die scheiß Kanaken?" - Nein, so funktioniert das Leben nicht. Gemeinsam mit Felix nabelt sie sich von der rechten Szene ab. Beide helfen heute anderen, aus dem Neonazi-Milieu auszusteigen.
Mirko Böttchers stimmige Inszenierung veranschaulicht eindringlich die wichtigen Stationen des jungen Lebens der heute 27-jährigen Aussteigerin und greift darüber hinaus den aufklärerischen Aspekt auf. Denn ein wichtiger Bestandteil von Buch und Inszenierung ist es, ein Zeichen zu setzen gegen den Rechtsruck in Deutschland und auf die unterschiedlichen Masken aufmerksam zu machen, hinter denen sich der Nationalsozialismus sich im Alltag verbirgt.
Beklemmende und absurde Parallelwelt
Durch ihr intensives und fesselndes Spiel führen Elisabeth Hütter und Tim Weckenbrock die Zuschauer im ausverkauften Studio sukzessive in eine beklemmende Parallelwelt hinein, die gleichzeitig so irrational und absurd ist, dass man zuweilen unwillkürlich lachen muss. Elisabeth Hütter beweist einmal mehr, wie vielseitig sie ist und ihr multifunktionaler Mitstreiter Tim Weckenbrock, der im Stück nicht nur Heidis Partner Felix, sondern auch alle anderen Schlüsselfiguren in ihrem Lebens verkörpert, gibt mit dieser ersten größeren Rolle ein brillantes und vielversprechendes Debut.
Das Bühnenbild von Marie Wildmann ist ebenso einfach wie genial: Die Schauspieler agieren vor einem riesigen hölzernen Ordnungssystem mit vielen Schubladen und Regalen. Diese werden zunächst mit Kindheitserinnerungen gefüllt und schließlich wütend leergefegt. Auch im übertragenen Sinn funktioniert so ein zwanghaft anmutender Ordnungshelfer, denn er hat viele Schubladen, in die Menschen anderer Herkunft und Rasse der nationalsozialistischen Ideologie folgend einsortiert werden können.
In Kooperation mit der Amadeu Antonio Stiftung und Allgäu Rechtsaußen zeigt das Landestheater mit "Ein deutsches Mädchen" die beeindruckende und sehenswerte Inszenierung einer mutigen und verstörenden Autobiografie.
Weitere Aufführungen am 8., 15. und 26. November, 13. Dezember, 10., 11., 17. und 31. Januar. Das Landestheater unterstützt Allgäu Rechtsaußen mit 0,50 Euro von jeder verkauften Eintrittskarte.