Memmingen (as). Mit dem Projekt des integrativen Kindergartens, der 1988/89 aus dem Förderkreis Integrativer Kindergarten e.V. hervorging, hatte Memmingen eine Vorreiterrolle in Deutschland inne. Ziel war es, Vorurteile abzubauen. Außerdem sollten behinderte Kinder die gleichen Möglichkeiten haben wie gesunde und dort eingegliedert werden, wo sie wohnen – nicht, wie damals noch üblich, in einer (oft weit entfernten) Sondereinrichtung. Was als Experiment begann, wurde zu einer anerkannten und vorbildlichen Einrichtung.
1986 wurde in Memmingen der "Förderkreis Integrativer Kindergarten", die "Keimzelle" des miteinander Lebens, Spielens und Lernens behinderter und nicht behinderter Kinder, gegründet. Nach einem Versuchsjahr stand fest: Das gemeinsam Spielen und Lernen verlief völlig problemlos, zumal Kinder vorurteilsfrei aufeinander zugehen und überhaupt keine Schwierigkeiten haben, sich aufeinander einzustellen.
Neun integrative Gruppen in sieben Kindertagesstätten
Das Beispiel hat längst Schule gemacht: Heute gibt es in Memmingen neun Integrative Kiga-Gruppen in sieben Kindergärten und weitere Integrative Gruppen in drei Horten.
"Nein, es gibt keine Berührungsängste in der Gruppe", erklärt Andrea Walzer, seit fünf Jahren Leiterin der Kindertagesstätte Westermannstraße. "Wir haben zum Beispiel ein Kind mit einer spastischen Behinderung. Es kann sich nicht aufrichten, nur krabbeln. Der gesunde, gleichaltrige Freund beschrieb dieses Kind seiner Mutter gegenüber als 'das Kind mit der Brille'", erzählt Walzer, "die Behinderung fand er nicht weiter erwähnenswert".
Oft haben die Kinder auch positiven Einfluss aufeinander. So wurde bereits im Versuchsjahr beobachtet, dass ein hypernervöses Kind durch den Umgang mit einem behinderten ruhiger wurde oder, dass es behinderten Kindern gelang, durch Nachahmung der anderen ihre motorischen Fähigkeiten zu verbessern.
"Es galt viele Ängste und Hürden zu überwinden"
Im Alltag sind die Gruppen nicht immer getrennt, die Kinder treffen sich im Flur, spielen im Garten miteinander. Nicht einmal für seine spezielle Therapie muss das betroffene Kind aus der Gruppe herausgenommen werden. Vor 25 Jahren war das noch undenkbar: „Damals war der 'richtige und gute Weg' die Sondereinrichtung“, sagt Brigitte Linder, die 1989 maßgeblich am Aufbau der ersten I-Gruppe im Westermann-Kiga beteiligt war. "Man konnte sich nicht vorstellen, behinderte und gesunde Kinder gemeinsam zu betreuen. Das war ein gänzlich neuer Prozess, da waren Ängste da“, so Linder. Viele Vorurteile gab es zu überwinden – und natürlich auch bürokratische Hürden.
"Integration steht und fällt mit den Rahmenbedingungen"
Die Finanzierung sollte der Bezirk Schwaben übernehmen. Neben behindertengerechter Ausstattung ist eine zweite Erzieherin (möglichst mit heilpädagogischer Ausbildung) zur Betreuung der Integrativen Gruppe erforderlich. Da die Gruppen kleiner sind, fallen die Elternbeiträge geringer aus. Die zusätzlichen Kosten werden durch 4,5-fache Tagessätze vom Bezirk ausgeglichen.
"Integration steht und fällt mit den Rahmenbedingungen", erklärt Brigitte Linder. "Integration muss auch gelebt werden könne, das geht nicht mit Sparprogrammen. Wenn das Umfeld stimmt, ist jede Behinderung integrierbar", ergänzt Andrea Walz.
"Eltern entscheiden sich heute bewusst für die Integrative Gruppe"
Die Integrative Gruppe umfasst bis zu 15 Kindern (in der „normalen“ sind es bis zu 25). Davon sind drei bis fünf Kinder sozial, emotional, geistig und/oder körperlich behindert oder von Behinderung bedroht - „Bei einigen Kindern ist auch nur die Entwicklung verzögert“, erklärt Walz. Bei Spätentwicklern sei eine eventuelle Behinderung schwer zu erkennen. "Das ist eine sensible Geschichte“, meint Sozialrefaratsleiter Manfred Mäuerle, „oft verleugnen die Eltern des betroffenen Kindes die Anzeichen einer Behinderung“.
Haben die Eltern gesunder Kinder Bedenken, ihre Kinder in einer Integrativen Gruppe anzumelden? „Nein, die Eltern entscheiden sich heute sogar oft bewusst für die Integrative Gruppe", sagt Walzer - "Nicht zuletzt auch aus der Erwägung heraus, dass es sich hier um eine kleinere Gruppe handelt", ergänzt Mäuerle.