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"Demokratie ist verletzlich geworden"

Eröffnung der Ausstellung „VerVolkt II“ mit Matinée

veröffentlicht am 18.05.2022
VerVolkt

Bei der Ausstellungseröffnung (v.li.): Dr. Wolfgang Proske (Herausgeber), Dr. Hubert Seliger (Generaldirektion Staatl. Archive Bayerns), Regina Gropper (Kuratorin Stadtmuseum), Oberbürgermeister Manfred Schilder, Dr. Martina Steber (Institut für Zeitgeschichte), Bürgermeisterin Margareta Böckh, Bürgermeister Dr. Hans-Martin Steiger und Kulturamtsleiter Dr. Hans-Martin Bayer. Fotos: Helmut Scharpf

Memmingen (dl). Am Internationalen Museumstag startete im Stadtmuseum das Ausstellungsprojekt VerVolkt II mit neuen Inhalten in die Saison. Ausgesuchte Referenten hielten Vorträge zur lokalen NS-Geschichte und zur Bedeutung von Erinnerungsarbeit heute. Mit dem zweiten Teil der Ausstellung weiten die Stadt Memmingen und das Stadtmuseum die lokale Erinnerungsarbeit. Sie suchen Antworten auf Fragen, wie der Nationalsozialismus vor Ort Fuß fassen konnte, wie sich faschistische Strukturen entwickelten und wie es nach dem Ende des Regimes weiterging.

Oberbürgermeister Manfred Schilder begrüßte im Beisein von Bürgermeisterin Margaretha Böckh und Bürgermeister Dr. Hans Martin Steiger im gut besuchten Dietrich-Bonhoeffer-Haus die Referenten Dr. Martina Steber, Historikerin am Institut für Zeitgeschichte München, Dr. Hubert Seliger, Archivar an der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, sowie Dr. Wolfgang Proske, Herausgeber der Buchreihe „Täter, Helfer, Trittbrettfahrer“.

Die Stadt Memmingen und der Rathauschef unterstützen das Ausstellungsprojekt "VerVolkt" mit großem Engagement. Mit "VerVolkt II" endet die Projektförderung im Rahmen des Jubiläumsjahrs „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland". Doch Erinnerung an und Faktenwissen zur NS-Geschichte seien auch in Zukunft wichtiger denn je, stellte Kuratorin Regina Gropper fest. „Es gibt keine abgeschlossene, nur eine fortlaufende Geschichte des Antisemitismus.“ Sie verwies auf aktuelle Umfragewerte zu Judenhass und Hetze gegen Menschen in der deutschen Bevölkerung.

Der Name der Ausstellung „VerVolkt“ spiegele die Zeit des Nationalsozialismus in besonderer Weise, erklärte Martina Steber. Der Name sei doppeldeutig: VerVolkt bedeute die Einteilung und Stigmatisierung der Menschen nach völkischem und rassischem Denken. Gleichzeitig weise das Wort auf die tätliche, reale Ausgrenzung und Verfolgung hin, die in der Zeit des Nationalsozialismus zum Alltag gehörte.

„Kultur des Gedenkens“ statt Verdrängung

VerVolkt II

Ein Exponat der Ausstellung im Stadtmuseum.

Nach Steber verändern sich Erinnerung und Gedenken an den Nationalsozialismus. Die Auseinandersetzung der deutschen Gesellschaft mit der NS-Zeit zeige mehrere Phasen der Veränderung. In den 1980er habe eine „Kultur des Gedenkens“ die Zeit der Verdrängung abgelöst. Die Öffnung der Archive in ehemals besetzten Ländern im Osten zur Jahrtausendwende förderte neues Aktenmaterial zutage. Heute gebe ein „kollektives Gedächtnis“ der Erinnerungskultur Sicherheit im Umgang mit der deutschen Geschichte.

"Demokratie als Staatsform steht in Frage"

Der nationale Konsens zerbröckele jedoch auf lokaler Ebene leicht, wenn zum Beispiel historische Forschung das tradierte Bilder lokaler Prominenter in ein neues Licht rücken. Auch Erzählungen der Geschichtsschreibung, die in Dörfern und in ländlichen Regionen die „heile Welt“ propagierten, stelle die Geschichtsforschung heute infrage. Seit einigen Jahren nehme die Forschung vermehrt die „Täter“ und Prozesse der Ausgrenzung in den Blick, auch auf lokaler Ebene. Steber sieht die Demokratie als Staatsform heute infrage gestellt, sowohl von außen durch autoritäre Regime in Europa, als auch innerstaatlich. Die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus sei daher wichtig. Demokratie sei verletzlich geworden. Umso anerkennenswerter sehe Steber den Wert dieses Ausstellungsprojekts.

Beispiel lokaler Geschichtsforschung

Als ein Beispiel lokaler Geschichtsforschung stellte Hubert Seliger die Biografie des Leiters der Memminger Kriminalpolizei, Johann Seißler, vor. Seißler kam 1942 von Erlangen nach Memmingen und leitete bis 1945 die Memminger Kriminalpolizei. Er hatte Verfolgungen gegen die Familie Mayrock und gegen Memminger Sinti und Sintezas zu verantworten.

Die Jazz-Musiker Bobby und Lancy Falta, beide Kulturpreisträger der Stadt, umrahmten die Vorträge musikalisch mit melodischen Jazz-Formationen auf der E-Gitarre. Die NS-Geschichte hinterließ bei den beiden Musikern tiefe Spuren, ist auf einer Ausstellungstafel nachzulesen. Bobby Falta entkam der Vernichtung als Kind bei der Tante in Wien. Sein Vater kam im KZ Mauthausen ums Leben. Viele Verwandte der Familie Falta wurden Opfer des Porajmos (Völkermord an den europäischen Roma im Nationalsozialismus), weil sie Sinti waren. Viele Familienmitglieder kamen in der NS-Zeit ums Leben, einige erfuhren die Schickanen Seißlers in Memmingen direkt.

Das Ende der NS-Herrschaft bedeutete für Sinti kein Ende der Ausgrenzung, denn der Genozid an Sinti und Roma erhielt erst 1982 eine Anerkennung in der BRD. Nationalsozialistisches Denken blieb in den Köpfen der Deutschen haften. Eine Rehabilitation und Entschädigung blieb aus. Seißler als „Täter“ der Verfolgung der Memminger Sinti erreichte dagegen bald seine Pensionierung.

"Handelnder aus Überzeugung"

Seißler sei engagiertes Parteimitglied seit 1933 gewesen, erläuterte Seliger. Als Leiter der Kriminalpolizei Memmingen habe er es verstanden, "seine „Macht auszuspielen“. Er ging gegen politisch Andersdenkende vor, ebenso wie gegen Memminger Sinti und Sintezas aus rassistischen Gründen. Die Spruchkammer Memmingen verurteilte ihn im November 1946 als „Hauptschuldigen“ zu sechs Jahren Arbeitslager, weil er „ein idealer Handlanger des verbrecherischen Nazi-Systems“ gewesen sei. Zwei Jahre später erreichte Seißler seine Neueinstufung als „Mitläufer“ vor der Berufungskammer Kempten und die kurzzeitige Wiedereinsetzung ins Beamtenverhältnis. Er starb 1971 als Pensionär in Oberfranken. Seliger, der die Akten im Stadtarchiv Memmingen und Augsburg einsehen konnte, bilanziert: „Seißler war nicht einfach nur 'Werkzeug', wie die Berufungsspruchkammer meinte, sondern Handelnder aus Überzeugung.“

„Die Geschichtsforschung hat Lücken"

Wolfgang Proske ist Herausgeber der Buchreihe „Täter, Helfer, Trittbrettfahrer“. Seit vielen Jahren veröffentlicht der promovierte Sozialwissenschaftler fundierte Forschungen zu aktiven Personen der NS-Zeit. Sein neuester Band handelt von Menschen aus dem Allgäu. Auch der Aufsatz über Johann Seißler ist darin zu lesen. Als Geschichtslehrer stellte er vor Jahren fest: „Die Geschichtsforschung hat Lücken.“ Seine Buchreihe ist für 20 Bände geplant. Es sind die Regionen Süddeutschlands, die Proske mit Unterstützung vieler Mitautoren auf Fälle von begangenem NS- Unrecht untersucht, recherchiert und beschreibt.

Die Ausstellung VerVolkt II ist bis 7. August 2022 im Stadtmuseum und am Martin-Luther-Platz zu besichtigen. Am 27. Mai und 10. Juni, jeweils 15 Uhr, führt Heimatpflegerin Sabine Streck durch die Ausstellung. Am Dienstag, 28. Juni, 19 Uhr, liest Robert Domes aus seinem neuen Buch „Waggon vierter Klasse“ in der Stadtbibliothek Memmingen. Anmeldungen unter Tel 08331/850-134.