„Der Mann, der zu viel wusste“: Der Gedächtniskünstler Mr. Memory (Joël Dufey) - hier in die Zange genommen vom Conferencier (Joscha Schönhaus) und Richard Hannay (Harald Schröpfer, rechts) - ist eine Schlüsselfigur für die Machenschaften der geheimnisvollen „39 Stufen“. Foto: LTS © Jürgen Bartenschlager
Memmingen (as). Mit seiner Inszenierung des Hitchcock-Klassikers „Die 39 Stufen“ bescherte Regisseur Alexander Flache dem Memminger Publikum einen spritzigen, turbulenten Premiereabend. In Slapstick-Manier und mit überbordender Spielfreude nahmen die vier Darsteller ihre Zuschauer in ständig wechselnden Rollen mit auf eine abenteuerliche Verfolgungsjagd.
Erfrischend respektloser Humor, ein galoppierender Rhythmus, das pointierte Ping-Pong der Dialoge und exzentrische Charaktere – das sind die Zutaten einer guten Screwball-Komödie. Elemente davon hatte bereits Altmeister Hitchcock 1935 in seine Verfilmung des 20 Jahre zuvor erschienenen Spionagethrillers „The 39 Steps“ von John Buchan eingebaut. In seiner prämierten Theateradaption verwandelte der Autor und Schauspieler Patrick Barlow Hitchcocks Klassiker in ein rasantes Bühnenabenteuer. Der Berliner Regisseur Alexander Flache brachte die witzig-spritzige Persiflage auf das Genre des Spionagethrillers mit Bravour, sehr viel Liebe zum Detail und hoch motivierten Darstellern auf die Bühne des Memminger Stadttheaters.
Die Spur führt nach Schottland
Das Dasein des lebensmüden Dandys Richard Hannay (mit dem Mut der Verzweiflung: Harald Schröpfer) kommt im wahrsten Wortsinne in Bewegung, als er die geheimnisvolle und attraktive Annabella (brilliert in drei völlig unterschiedlichen Frauenrollen: Roberta Monção) in einer Show im Londoner Westend kennenlernt. Als Schüsse fallen, überredet die Fremde Richard, sie mit zu sich nach Hause zu nehmen. Annabella, von zwei düsteren Gestalten in schwarzem Trenchcoat höchst klischeegerecht verfolgt, erzählt ihm von gestohlenen militärischen Dokumenten höchster Geheimhaltungsstufe und erwähnt einen Ort in Schottland als Dreh- und Angelpunkt der mysteriösen „39 Stufen“. Am frühen Morgen fällt Annabelle ihrem Gastgeber in die Arme – eine durchaus willkommene Geste, doch leider hat die Schöne ein Messer im Rücken. Harray, bald des Mordes verdächtigt, muss fliehen – vor der Polizei und bald darauf auch vor den wahren Tätern. Er flüchtet nach Schottland, um den Mord aufzuklären und das Rätsel der 39 Stufen zu lösen.
Um die Polizei abzulenken, küsst der vermeintliche Delinquent im Zugabteil eine fremde junge Frau (Pamela), die ihn jedoch verrät. Eine aberwitzige Verfolgungsjagd beginnt. In Schottland angekommen, enttarnt Barray den Kopf des Spionagerings, der sich als wahnhafter Nazi entpuppt. In London, so erfährt er, wurden wichtige Geheimnisse des Luftfahrtministeriums gestohlen – hier kommt der Gedächtniskünstler Mr. Memory ins Spiel ... Kann Richard, mittlerweile „Staatsfeind Nr. 1“, gehetzt wie ein Tier und durch seine Verhaftung an die äußerst unwillige Pamela gekettet, seinen Verfolgern entkommen und sich von jedem Verdacht befreien?
Vier Darsteller in über 30 Rollen
Ob als herrlich depperter Polizist, androgyner Conferencier, falscher Professor, ungeschlachter Bauer, aufdringlicher Zeitungsjunge, charlestontanzende Gangsterbraut, übergriffige Hotelbesitzerin oder Weihnachtsengel: In an die 30 Rollen interagieren Joscha Schönhaus und Joël Dufey mit dem, den (unfreiwilligen) Helden Harray spielenden Harald Schröpfer und der seine jeweiligen weiblichen Counterparts darstellenden Roberta Monção wie in einem fortwährenden Tanz – mal stakkato, mal in Zeitlupe. Atemberaubend schnell wechseln die beiden, sämtliche Nebenrollen (mit viel Schottenkaro) bekleidenden Darsteller dabei nicht nur Kostüme, Kittel und Kopfbedeckungen, sondern auch das Geschlecht, um als Paar agieren zu können.
Dabei fallen sie immer wieder lustvoll aus den jeweiligen Rollen, um ihre jeweiligen Figuren aus einer anderen Perspektive vorzuführen. So telefoniert Harray mit dem vermeintlichen Professor, der jedoch gerade in der Rolle des Polizisten hinter ihm steht. Als der „Professor“ erschossen wird, weigert er sich zu sterben, weil das Stück ja schließlich für vier Schauspieler gedacht ist …
Multifunktionales Bühnenbild
Zwischen den Szenen betätigen sich die Schauspieler als Bühnenarbeiter, um das ebenso minimalistische wie geniale Bühnenbild von Petra Linsel immer wieder neu zu arrangieren. Dieses besteht aus zwei großen Holzkästen, die als Showbühne, Highland-Express-Abteil samt Eisenbahnbrücke, Bauernkate mit Schrankbetten oder Hotelzimmer fungieren. Ein Auto entsteht blitzschnell aus vier Hockern und zwei Lampen und wenn es darum geht, ein Sumpfgebiet oder eine Felsspalte zu improvisieren, müssen dann auch mal die Darsteller auf originelle Weise selbst herhalten.
Skurrile Figuren, überzeichnete Gesten in Slapstick-Manier, das halsbrecherische Tempo, witzige Dialoge („Nein! Doch! Oh!“ – Louis de Funès lässt grüßen) und Gute-Laune-Swing machen aus dem Theaterabend „ganz großes Kino“. Am Ende der Premiere durften Macher und Darsteller sich über begeisterten, langanhaltenden Applaus freuen.