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Grenzgebiet Schule - „Amoklauf mein Kinderspiel“ im Stadttheater

veröffentlicht am 05.02.2014

Josephine Josephine Bönsch, Matthias Wagner und Christian Müller erzählen von zu Hause. Fotos: Forster/ Landestheater Schwaben

Memmingen (as) Anders als die umjubelte Premiere, fand die zweite Vorstellung nur recht schleppenden Beifall. Bei aller Intensität der Darstellung erreichte das Stück den Zuschauer nicht ganz, als gäbe es eine gläserne Wand zwischen Bühne und Zuschauerreihen.  Abwehr? Immerhin hat das Ungeheuerliche, was hier gezeigt wird, sogar in Memmingen stattgefunden - im Mai 2012. Der in Gera geborene Autor Thomas Freyer war 21 als die Tragödie in Erfurt stattfand - der erste Amoklauf eines Schülers in Deutschland.

„Es geht uns gut, man lebt, man darf sich nicht beklagen“ ist das Mantra der Ex-DDR-Elterngeneration im Stück. Innerlich nicht im Westen angekommen, betäubt sie sich - vielleicht aus Angst vor der neuen Freiheit - mit Alltagsritualen, Essen, TV und Konsum. (Die sog. „School Shootings“ ereignen sich dort, wo der Wohlstand blüht – in USA, Kanada, Finnland und Deutschland - und dort bevorzugt in provinzielleren Gegenden, wo die Klischees von der bier- und bratwurstgeschwängerten Kleingartenseligkeit noch  wahr werden.)

Formalismen und Alltagsrituale statt Inhalte

Gefangen Gefangen in einer beengenden Realität: "T" alias Josephine Bönsch.

In poetischen Worten verdichtet, beschreiben die drei jugendlichen Protagonisten "E" (Matthias Wagner), "T" (Josephine Bönsch) und "C" (Christian Müller), wie sie sich selbst und die Welt wahrnehmen. In der Schule machen die Lehrer auf autoritär, drängen auf die Einhaltung von Traditionen und Formalismen - und leugnen ihre Stasi-Vergangenheit.

Die Eltern spulen ein standardisiertes Fürsorgeprogramm ab („Essen ist fertig! Wie war‘s in der Schule?“ – „Schön.“). Ihre Kinder erzählen ihnen nichts - sie ritzen sich, erbrechen das Essen, malen nachts Hakenkreuze an Wände. Dass sie namenlos und geschlechtsunspezifisch dargestellt werden, ist ein Hinweis auf ihre bislang gescheiterte Suche nach einer eigenen Identität. Als die drei Namenlosen ihre schwarze Kluft anlegen und sich ins „Grenzgebiet“ begeben, schlägt ihr geducktes Siechtum um in Grandiosität. Jetzt ist der Ausnahmezustand angesagt, die Todesstrafe  – „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“

Absolute Macht und grenzenlose Willkür

Die Inszenierung von Peter Kesten (an manchen Stellen hätte sie etwas subtiler sein dürfen) zeigt, wie die Grenzen zwischen Spiel und Realität verwischen. Aus dem 100 Mal am Computer erprobten Spiel wird ein sehr blutiger und grausamer Ernst. Es wird sichtbar, mit welch akribischer Sorgfalt die Täter die Hinrichtungen an ihren Schulen als Demonstrationen absoluter Macht und grenzenloser Willkür planen. Das Motiv der Rache offenbart sich im triefenden Zynismus und geradezu genussvollen Abschlachten der Lehrer und Mitschüler - begleitet von frenetischen Rufen wie „Headshot!“.

Nicht zuletzt im chorischen Sprechen der drei Rächer klingt die griechische Tragödie an. Doch selbst die Tragik wird von dem Wertevakuum verschlungen, um das die Handlung kreist wie um ein riesiges schwarzes Loch. Drei introvertierte Außenseiter, die sich am Nullpunkt treffen - wo aus dem Vakuum ein unbändiger Narzissmus erwächst  mit dem Wunsch, Spuren zu hinterlassen, ihre Unterschriften zu setzen mit Blut. ("Ich bin eine große Sache!") an einem Ort, an dem sie vorher nicht beachtet wurden.

Grandiose Schauspieler

All diese Konflikte darzustellen, verlangt den Schauspielern Äußerstes ab. Sie schlüpfen fortwährend in wechselnde Rollen, sind mal Direktorin, Mutter, Vater oder Mitschüler. (Dass sie meist mit dem Gesicht zur Wand spielen, erleichtert es dem Zuschauer, sich vom Geschehen zu distanzieren.) Großes Kompliment an die Darsteller der "Namenlosen": Josephine Bönsch, Christian Müller und Matthias Wagner.