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„ritzen“ - erfolgreiche Premiere des LTS-Jugendtheaterstücks auf der Caféhausbühne des Stadttheaters

veröffentlicht am 07.10.2013

Carolin Jacoby verkörpert die 14-jährige Borderlinierin Fritzi.... Fotos: A. Marx Carolin Jacoby verkörpert die 14-jährige Borderlinierin Fritzi beklemmend intensiv. Fotos: A. Marx

Memmingen (as). Das Jugendtheaterstück des Landestheaters Schwaben, das nun auf Reisen durch die Schulen geht, beschäftigt sich mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Etwa 14 ist Fritzi in dem Stück von Walter Kohl. Ihr Elternhaus ist zerrüttet, ihr Freund HIV-positiv. Kein leichter Stoff, den Regisseurin Stefanie Bauerochse sich vorgenommen hat. Mit Carolin Jakoby als Fritzi hat sie eine Darstellerin gefunden, die diese schwierige Rolle äußerst intensiv, glaubhaft und beklemmend verkörpert.

HF Fritzi Fritzi fühlt sich in sich selbst gefangen.

 „Ihr geilt Euch auf, was?“, fragt Fritzi (Carolin Jakoby) ins Publikum hinein, nachdem sie kühl und analytisch die Vorteile eines Stanley-Rasiermessers beschrieben hat. Ritzen - das mache jedes Mädchen sowieso, behauptet sie, vor allem die, die im Sommer lange Ärmel tragen. „Tut nicht weh, du spürst nichts“, verharmlost Fritzi ihr Tun – und korrigiert sich gleich darauf: „Nein, es soll ja wehtun.“

Merkmale der Borderline-Störung sind instabile Beziehungen, ein gestörter Selbstbild und selbstzerstörisches Verhalten: Mädchen wie Fritzi ritzen sich die Haut auf, meist an den Armen, um sich selbst spüren zu können. „Dann weißt du erst, dass es Dich gibt“, wie Fritzi es ausdrückt. „Es tut gut, wenn es weh tut“, ergänzt sie - doch sie ist „eine, die nicht weint“.

HF 2 Die raffinierte Beleuchtung verdeutlicht die verschiedenen Ebenen des Stücks.

Fritzi fühlt sich in sich gefangen, sie muss ritzen, „Spalten“ machen „damit etwa raus kann aus mir“. Sie spielt mit Definitionen des Wortes „Ritze“ – „ein kleiner Spalt, durch den man nach draußen sehen kann“. Doch der Ausgang ist ein Un-Ort: „Ritzen ist da, wo nach dem Bauplan kein Platz sein sollte.“

Fritzi befindet sich auf einem Gerüst, das ein Möbelstück in ihrem Zimmer darstellt. Puristisch, praktisch und symbolhaft ist dieses einzige Ausstattungsstück. Das Mädchen wirkt wie abgesetzt auf einem Regal, eingekastelt von den Bauteilen, die das Möbel in Abschnitte und Ebenen unterteilen. Während ihr Verhalten auf der oberen Ebene ihren Zustand in der Psychiatrie spiegelt, ist die untere ihrem alltäglichen Umfeld vorbehalten. Fritzi windet sie sich zwischen beiden hin und her, sie bäumt sich auf, macht sich klein, ist ständig in Bewegung.

Auf der Alltags-Ebene hat sie ein Notebook vor sich. Sie chattet mit anonymen Männern über Sex - hin und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Nähe und Intimität („bitte umarme mich“) und Impulsen von Zerstörung und Hass („Schwanz abhacken“). Später erzählt Fritzi, dass sie vergewaltigt wurde, doch niemand habe ihr geglaubt.

Ihr Ersatzpartner ist eine große weiße Stoffpuppe, die sie immer wieder dicht an sich presst, um ein Stück Geborgenheit und Trost zu finden. Eine Art Liebesdummy, den sie wiegt, und schließlich mit ihrem Messer „ersticht“.

Im Chat ist ihre Identität fließend – wie im wahren Leben, ihre eigentliche Selbstbeschreibung lautet: „14, hässlich, fett, ein Dreck“. Widersprüchliche Gefühle hegt sie nicht nur sich selbst gegenüber, sondern auch gegen ihren Freund Michi, dessen Initiale sie in den Arm geritzt trägt. Er  hat sie mit einer  14-Jährigen betrogen hat und sitzt jetzt im Knast, weil er das Mädchen evtl. mit AIDS infiziert hat.

Das Stück endet, wie es anfängt. Eine Art Reigen der Aussichtslosigkeit. Fritzi findet keinen Ausgang aus ihrem inneren Gefängnis. Angesichts zunehmender psychischer Störungen bei Jugendlichen (laut einer Studie des Deutschen Jugendinstituts) ein wichtiges Thema, das von Stefanie Bauerochse und Carolin Jacoby hervorragend umgesetzt wurde. Die Premiere fand großen Beifall.

Die hier dargestellte, selbstverletzende, Problematik ist eine weibliche Variante der Borderline-Symptomatik, wie sie bei Mädchen im Pubertätsalter auftritt. Während männliche Jugendliche ihre Aggressionen eher nach außen richten, verhalten sich betroffene junge Frauen auto-aggressiv, erklärte Margareta Böckh, Leiterin des Kinderschutzbundes, bei der anschließenden Podiumsdiskussion. Auch in den Schulen soll das Stück nicht nur vorgeführt werden - Stefanie Bauerochse und Carolin Jacoby stehen den Jugendlichen für Gespräche zur Verfügung.

"ritzen"-Autor Walter Kohl wurde mit dem Ohrwurm-Hörspielpreis ausgezeichnet.